Ingenieur:innen sind auf Lösungen fokussiert
Noch immer spielen die Belange von Frauen bei der Entwicklung von Innovationen nur eine untergeordnete Rollte. Warum das so ist und wie man es auf längere Sicht ändern kann, darüber sprachen wir mit Regina Sipos, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, und Clemens Striebing, Senior Researcher am Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation. Sie bieten an der TU* gerade ein Seminar zum Thema des Gender Bias in Forschungs- und Entwicklungsprozessen an, bei der auch zwei Kolleginnen aus der Technologiestiftung und die Hacking Box zum Einsatz kommen.
Ich brauche keine Markforschung, um zu wissen, was Frauen im Auto wollen: nicht sterben, sie wollen mehr weibliche Dummies in der Unfallforschung!
In Eurem Seminar Hacking Innovation Bias untersucht Ihr zusammen mit den Studierenden, wie Frauen benachteiligt werden, weil ihre Bedürfnisse nicht hinreichend in neue Produktentwicklungen einbezogen werden. Auch in diesem Semester wurden am Ende wieder kritische Artefakte gebaut, die typische Missstände in gegenwärtigen F&E-Prozessen offenlegen. Seid Ihr zufrieden mit den Ergebnissen?
Clemens: Ein Pedal zu konstruieren, das jedes Mal wegrückt, wenn man mit dem Fuß drauftreten will, um zu verdeutlichen, wie viele Frauen sich fühlen, die im Auto kaum an die Pedale kommen: Das fand ich schon sehr kreativ, genauso wie den Vorschlag, die Idee für durch Sensor auf die eigene Körpergröße anpassbare Pedale bei einer Automesse zu präsentieren. Und auch die anderen Gruppen haben gute Ideen zu ihren Themen entwickelt, vom aufklärenden Beipackzettel für Arzneien, über ein platzsparendes Raum-Konzept für Unisex-Toiletten bis hin zur Aufklärung über Übersetzungs-Algorithmen, die unhinterfragt klassische Geschlechter-Stereotype reproduzieren.
Tatsächlich haben sich alle Arbeitsgruppen nach einer ausführlichen und breiten Recherche, bei der sogar der Griff für die Bratpfanne in den Blick geraten war, letztlich doch wieder mit häufig diskutierten Beispielen beschäftigt, das aber sehr kreativ. Unser Ziel, den alltäglichen Gender Bias in allen möglichen Produkten und Technologien auf die Tagesordnung zu setzen und Bewusstsein zu schaffen, haben wir erreicht.
Regina: Das sehe ich genauso. Die Missstände sind systemisch. Autokonzerne geben viel Geld dafür aus, die Autoträume von weiblichen Kunden zu recherchieren. Aber bei Crashtests müssen weibliche Dummies nach wie vor nur als Beifahrerin einbezogen werden. Das hat zur Folge, dass Fahrerinnen bei Unfällen häufiger und schlimmer verletzt werden als Männer, für die die Fahrersitze konzipiert sind. Ich brauche keine Markforschung, um zu wissen, was Frauen im Auto wollen: nicht sterben, sie wollen mehr weibliche Dummies in der Unfallforschung!
Kurzfristig wird sich an den Missständen leider nichts ändern. Aber wir machen unsere Seminare für Studierende, die morgen in die Forschung & Entwicklung gehen und sich vielleicht an unser Seminar erinnern, wenn sie Innovationen entwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass unsere gewählte Lernmethode, das Critical Making, tatsächlich das fehlende Bewusstsein schaffen kann und dazu anregt, die Dinge zu hinterfragen. Und das ist gerade bei den Genderthemen unbedingt sinnvoll.
Dass diese Lösungen beim Critical Making nicht im Mittelpunkt stehen und es stattdessen allein darum geht, überhaupt erst ein Problembewusstsein zu schaffen, ist für angehende Ingenier:innen oft sehr irritierend.
Critical Making und auch die kritischen Artefakte, die im Ergebnis entstanden, sind mir neu. Was unterscheidet Critical Making vom Design Thinking, das sich in den letzten Jahren für Innovationsprozesse ja fest etabliert hat?
Regina: Beim Design Thinking steht der Prototyp im Mittelpunkt. Es geht darum, eine Lösung zu finden, und dafür werden kreative Kräfte geweckt. Beim Critical Making baue ich nach einer ausführlichen Recherche auch einen Prototyp, aber als kritisches Artefakt, das im besten Fall weitere Diskussionen über das Thema auslöst. Es geht darum, Prämissen zu hinterfragen. Unter Umständen wird am Ende sogar eine erarbeitete Lösung verworfen, die technisch funktioniert.
Clemens: Gerade für angehende Ingenieur:innen ist das oft befremdlich. Sie sind auf Lösungen fokussiert. Dass diese Lösungen beim Critical Making nicht im Mittelpunkt stehen und es stattdessen allein darum geht, überhaupt erst ein Problembewusstsein zu schaffen, ist für sie oft sehr irritierend. Die Reflexion kommt bei dieser Methode auch deshalb praktisch automatisch in Gang, weil immer interdisziplinär gearbeitet wird und bereits die unterschiedlichen Herangehensweisen innerhalb der Gruppe eine Herausforderung sind.
Egal, ob Philosophie-Student:in oder angehende:r Ingenieur:in: Einen Vormittag lang haben alle Studierdenden des Blockseminars mit meinen Kolleginnen Carolin Clausnitzer und Sara Reichert an ihren Prototypen gearbeitet. Wie ist es denn zu dieser Zusammenarbeit mit der Technologiestiftung gekommen?
Regina: Carolin Clausnitzer und Sara Reichert sind gute Bekannte von uns. Wir arbeiten schon lange mit ihnen zusammen. Sie bieten mit ihren Hands On-Angeboten einen für viele überraschenden und sehr niedrigschwelligen Zugang zum Thema Digitalisierung. Funktioniert immer und bringt garantiert alle zum Mitmachen! Wir bitten die beiden deshalb häufiger, uns zu unterstützen. Sie bringen die Hacking Box mit und immer wieder gelingt es ihnen, gemeinsam mit den Studierenden die skizzierten Lösungsideen umzusetzen.
Clemens: Diesmal kam als besondere Herausforderung für die beiden dazu, dass wir alles virtuell machen mussten. Das hat aber ganz wunderbar funktioniert, selbst beim Prototypen-Workshop. So war das Seminar, das wir tatsächlich schon mehrmals angeboten haben, diesmal auch wieder neu für uns und eröffnete uns im wahrsten Sinne des Wortes neue Welten: Wir hatten sogar eine Workshop-Teilnehmerin aus Mauritius dabei!
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*Das Seminar findet an der TU am Lehrstuhl „Gender und Diversity in Technologie und Produktentwicklung“ von Prof. Dr. Martina Schraudner statt.