„Deutungshoheit abgeben, gesellschaftliche Vielfalt abbilden“
Digitale Medien haben unsere Kommunikation stark verändert. Der morgendliche Blick in die (gedruckte) Zeitung gehört bei vielen nicht mehr zum Alltag. Auf die Veränderungen müssen die Zeitungen reagieren - und finden ganz unterschiedliche Antworten. Anfang September hat die Berliner Zeitung das Projekt „Open Source“ gestartet, das die Leserschaft einlädt, Beiträge einzusenden. Über das neue Selbstverständnis und erste Erfahrungen mit dem Open Source-Projekt ein Interview mit der Kulturredakteurin und Kuratorin des Projekts Dr. Petra Kohse und Dr. Mirko Schiefelbein aus der Geschäftsführung der Berliner Zeitung.
Ihrem Aufruf, Artikel einzusenden, die dann mit einem Honorar entgolten und auf Ihrer Plattform veröffentlicht werden, haben Sie das Motto vorangestellt „Vielfalt ist uns wichtig“. Wie sind denn die ersten Erfahrungen? Funktioniert das mit der Vielfalt?
Kohse: Wir waren alle sehr gespannt, was passieren würde. Viele haben uns gewarnt: dass wir viel zu viele Einsendungen erhalten würden, dass die Texte nicht publizierbar sein würden, dass wir rechtliche Probleme bekommen würden. Alles das ist nicht eingetroffen.
Wir haben in den ersten sechs Wochen rund 90 Einreichungen erhalten und 90 Prozent von ihnen sind ernst gemeint und auch ernst zu nehmen. Es ist kein Bürger*innen-Journalismus, wie ich es vielleicht erwartet hatte. Die Beiträge kommen von Journalist*innen, von Blogger*innen und – das finde ich sehr interessant – aus der Wissenschaft.
Wir haben den Neurologen, der über sein Forschungsgebiet schreibt, die Lehrerin, die aus ihrem Alltag berichtet oder den ehemaligen Senatsmitarbeiter, der heutige Politik kommentiert. Es ist so etwas wie ein erweiterter Mitarbeiter*innen-Kreis entstanden. Viele der eingereichten Themen hatten wir in der Redaktion gar nicht auf der Tagesordnung. Und dann haben gerade solche Themen eine Resonanz bekommen, die wir nicht erwartet hätten.
Schiefelbein: Für uns ist diese Erfahrung eine Bestätigung, offener zu werden. Wir als Zeitung möchten etwas von der Deutungshoheit abgeben und mehr aufnehmen, raus gehen und ins Gespräch kommen. Das heißt also, dass wir ein Stück Macht abgeben und sagen: Unsere Rolle als Zeitung in digitalen Zeiten ist es vor allem, die gesellschaftliche Vielfalt einer modernen Gesellschaft abzubilden und die Kommunikation zu kuratieren.
Die Herausforderung liegt eher darin, uns aktiv um weitere Quellen auch außerhalb der bereits jetzt erschlossenen Gruppen zu bemühen – gerade, weil uns das an unsere Grenzen führt, dorthin, wo auch wir für uns neue Erfahrungen machen können.
Der Umgang mit Texten gehört ja zu den Kernkompetenzen einer Zeitungsredaktion. Sind denn die Texte wirklich journalistisch brauchbar?
Kohse: Ja, ich bin überrascht über die Qualität der Texte. Es sind häufig längere Texte, als wir sie als Tageszeitung normalerweise präsentieren. Aber das ist online kein Problem. Die Reaktionen der Leser*innen zeigen auch, dass es ein Publikum für diese Texte gibt. Davon abgesehen hätte ich aber auch gar kein Problem, wenn die Online-Texte sich von denen unterscheiden würden, die wir in der Zeitung präsentieren.
Ich habe gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturjournalismus 2007 die Plattform www.nachtkritik.de gegründet. Wir hatten uns vorgestellt, in einem solchen Online-Medium emotionaler und experimenteller zu schreiben als für die Zeitung. Unsere Online-Beiträge sind dann aber letztlich nicht anders geworden. Trotzdem eröffnet das Digitale allein durch die Schnelligkeit und die formale Freiheit weiterhin die Möglichkeit, kontroverser und emotionaler zu debattieren. Eine kuratierte Plattform wie „Open Source“ bietet Raum und gleichzeitig den Schutz der Professionalität.
Die Digitalisierung ermöglicht es ja auch, räumlich auszugreifen. Ist das Open Source-Projekt lokal angelegt oder wollen Sie über die Stadtgrenzen hinaus Menschen erreichen?
Schiefelbein: Die Digitalisierung setzt uns keine räumlichen Grenzen, wir selbst uns auch nicht. Die Beiträge kommen schon jetzt aus ganz Deutschland.
Wir wissen, dass wir im Printbereich und online ganz unterschiedliche Leser*innen haben und dass wir – wenig überraschend – online vor allem die Jüngeren erreichen. Wir tragen dem auch insofern Rechnung, als dass wir auch eine englische Edition von Open Source anbieten. Bei der jüngeren Leserschaft erleben wir zudem eine grundsätzliche Akzeptanz für die Spielregeln der Offenheit: Creative Commons-Lizenzen, wie wir sie gerne bei dem Projekt realisieren, stoßen bei den Leuten nicht auf Widerstand, eher im Gegenteil: dass andere die Texte teilen, wird positiv gesehen.