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  • Thema Neue Technologien

Unberechenbare Digitalisierung

  • Rubrik Kommentar
  • Veröffentlichungsdatum 08.04.2024
Dr. Gabriele Schliwa

Weltweit wird in den Ausbau gigabitfähiger Infrastrukturen investiert, so auch in Berlin. In diesem Zusammenhang mehren sich Studien zum Thema Nachhaltigkeit, die durch quantitative Analysen unterstützen, die Auswirkungen der Digitalisierung besser abzubilden. In diesem Kommentar berichtet Gabriele Schliwa aus ihrer Erfahrung und bleibenden Eindrücken in diesem Bereich: Was momentan oftmals noch zu kurz kommt, sind angemessene Referenzpunkte, der weitere Kontext und ein tieferes Verständnis für das, was man eigentlich verbessern möchte.

Glasfaseranschlüsse, die bis zum Bordstein frisch verlegt wurden und noch keinen Endkunden haben (FTTC - Fibre to the Curb).

In Deutschland wird seit einiger Zeit debattiert, ob der Ausbau von Telekommunikationsnetzen – im Rahmen einer aktuellen Novellierung des Telekommunikationsgesetzes – als „überragendes öffentliches Interesse“ eingestuft werden soll. Im Interesse der Internetwirtschaft könnten Baumaßnahmen so etwa rechtlich gegen Denkmal- und Naturschutz abgewogen werden, sodass dem schnellen Datenfluss nichts mehr im Wege steht. Unlimited Data und Cloud Storage, so endlos und bezahlbar sie klingen, treffen jedoch nicht auf Unlimited Ressources. Die Gestaltung digitaler Infrastrukturen wird zunehmend als Handlungsfeld entdeckt, um unnötigem Energie- und Ressourcenverbrauch effektiv entgegenzuwirken.

Die Energieeffizienz von und durch digitale Infrastruktur gilt dabei als bedeutender und kalkulierbarer Gradmesser für technologische Innovationen. So hat das in 2023 verabschiedete Energieeffizienzgesetz erstmalig einen einheitlichen Rahmen für den effizienten Betrieb von Rechenzentren gesetzt, über deren Energieverbrauch es bisher relativ wenig Informationen gab. Kennzahlen, die innerhalb eines geschlossenen technischen Systems oder eines Unternehmens optimiert werden können, lassen sich jedoch nicht unmittelbar auf dynamische und vernetzte Städte anwenden. Hier gibt es fortlaufend Interessenkonflikte und unterschiedliche Prioritäten, die es abzuwägen gilt. Allein die Bestimmung der Systemgrenzen, also das, was in eine Betrachtung oder Berechnung einbezogen oder ausgeschlossen wird (ob wissend oder unwissend), kann signifikante Auswirkungen auf die resultierenden Zahlen und Handlungsempfehlungen haben.

Nach wie vor mögen und brauchen Menschen konkrete Zahlen und Kennzahlen – sei es, um bessere Entscheidungen zu treffen, eine aktuelle Situation zu bewerten oder Optionen zu vergleichen. Ein Zahlenbeispiel vermittelt Zielführung und strahlt Autorität aus. Wenn man einen Text oder eine Schlagzeile liest, stechen Prozent- oder absolute Zahlen häufig hervor. Sie sind das Element der geschriebenen Sprache, das im Gedächtnis bleibt. 99 Prozent, 600, ein PUE von 1.2, 18 TWh/Jahr, 42.

Die Studie „Digitalisierung unter Strom“, welche die Technologiestiftung Berlin in diesem Monat veröffentlicht, beleuchtet Energieeffizienz aus einer etwas anderen Perspektive. Sie sichtet eine Vielzahl quantitativer Studien, kommt aber auf vielleicht etwas irritierende oder gar enttäuschende Weise zu keiner knackigen, zahlenbasierten Kernaussage. Stattdessen tritt sie einen Schritt zurück, um Argumente dieser Natur besser einordnen und Zusammenhänge bilden zu können. Geht der Stromverbrauch runter, wenn die Energieeffizienz steigt? Was treibt die Entwicklung von Infrastrukturen für Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in einer Stadt voran oder was bremst sie ab? Was ist gemeint, wenn heute jemand von „Glasfaser“ spricht und warum gibt es die in manchen Stadtteilen gleich doppelt und dreifach? Was verstehen wir heutzutage unter einem Rechenzentrum? Kann der Mobilfunkstandard 5G an sich klimafreundlich sein, weil Komponentenhersteller ihre Energieeffizienz weiter optimiert haben? Und ist es nicht offensichtlich, dass mein Bildschirm – ob nun beim Streaming oder beim Lesen dieses Kommentars – wesentlich mehr Energie verbraucht als mein Internetzugang?

Rückblickend und vorausschauend sind der Glasfaserausbau, der 5G-Mobilfunk und auch der Betrieb von Rechenzentren lediglich Teile eines Gesamtbildes, die aktuell mehr Aufmerksamkeit und Veränderung erfahren. Die größere Frage stellt sich mir nach den grundlegenden Ursachen und Konsequenzen des Datenhungers, für die der Gigabit-Ausbau auch in Zukunft freie Bahn schafft.

Die aktuelle Studie ist hier frei zum Download verfügbar.