„Forum Wissenswerte: Frauen als Ausnahme? Der Weg zu einer geschlechtersensiblen Gesundheitsforschung
Frauen- und Männerkörper unterscheiden sich teilweise ganz grundlegend. Trotzdem gilt in Medizin und Forschung oft immer noch der männliche Körper als die Norm. Die Folge: eine Geschlechterdatenlücke. Diese Wissenslücke kann im schlimmsten Fall lebensgefährliche Folgen haben, aber auch immensen ökonomischen Schaden bringen, wie eine aktuelle volkswirtschaftliche Studie zum Thema Wechseljahre am Arbeitsplatz zeigt. Höchste Zeit zu handeln, sind sich Expertinnen einig.
Ein Bericht von Jessica Wiener
Eine zivilisierte und fortschrittliche Medizin ist geschlechtersensibel und gerecht. Davon würde auch die Volkswirtschaft profitieren. Der Weg dorthin ist allerdings lang. Diese Einschätzung teilen Professorin Dr. Mandy Mangler vom Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und dem Vivantes Klinikum Neukölln, Dr. Carina Vorisek vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung in der Charité und Professorin Dr. Andrea Rumler von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin.
Problemlage
Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, gibt es noch immer viel weniger Daten zum weiblichen Körper und auch zu Frauenkrankheiten, betont Mangler. Die Folge können falsche Diagnosen sein, anders wirkende Medikamente oder im schlimmsten Fall eine falsche Behandlung. Obwohl Frauen „in allen Aspekten der Gesundheit anders“ seien als Männer, genetisch wie immunologisch, würden selbst im Medizinstudium die entscheidenden Unterschiede noch immer nicht ausreichend gelehrt, sagt Mangler.
Das lässt sich zum einen historisch begründen: Frauen waren lange Zeit vom akademischen Leben ausgeschlossen. Allerdings seien die Belange von Frauen selbst heute noch völlig unterrepräsentiert. Laut Deutschem Ärztinnenbund sind beispielsweise 87 Prozent der Führungspositionen in deutschen Universitäten von Männern besetzt. „Bedeutet in der Realität, es gibt eine oder keine Frau im Raum bei einer Studiengruppe. Wie soll die eine Frau – selbst, wenn sie da ist – starke Impulse setzen, komplett in der Minderheit?“, fragt Mangler.
Und auch in der Forschung ziehe sich die Unterrepräsentation von Frauen durch alle Bereiche, sagt die Medizininformatikerin Vorisek. In der Zellforschung werde weiter hauptsächlich mit männlichen Zellen und mit männlichen Tieren gearbeitet. In klinischen Studien setze sich das fort. Oft aus Angst vor Nebenwirkungen auf beispielsweise ungeborene Kinder oder die Sorge vor Einflüssen durch den weiblichen Hormonhaushalt. Provokativ gesagt, es war einfacher, nur männliche Probanden zuzulassen. Mittlerweile hat sich das geändert: Weibliche Teilnehmer bei Studien sind vorgeschrieben. Allerdings: „Die Analysen sind extrem schlecht“, sagt Vorisek. Man schaue dabei kaum auf das Geschlecht.
Integrativer Ansatz
Anders sieht das bei der Studie MenoSupport aus – eine aktuelle Studie der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin zum Thema Wechseljahre am Arbeitsplatz. Die Studie schaut explizit auf die Daten von Frauen. Und sie belegt – laut Studienleiterin Rumler als erste Studie für Deutschland überhaupt – dass die Arbeitsfähigkeit von Frauen in den Wechseljahren massiv leidet, wenn sie Beschwerden bzw. Symptome haben und diese nicht adäquat medizinisch begleitet und/ oder behandelt werden: Fast ein Viertel der befragten Frauen reduzierten wegen Wechseljahresbeschwerden ihre Arbeitszeit, bei den über 55-Jährigen will etwa jede Fünfte früher in Rente gehen. Die volkswirtschaftlichen Konsequenzen sind enorm: Insgesamt 9,4 Milliarden Euro gehen der deutschen Volkswirtschaft dadurch jedes Jahr verloren. Das haben Rumler und ihr Forschungsteam errechnet und konkrete Handlungsempfehlungen für Unternehmen entwickelt, wie sie ihre erfahrenen Mitarbeiterinnen über die Zeit der Wechseljahre unterstützen können. Für eine konsequente Umsetzung dieser Maßnahmen brauche es jetzt den Einsatz von Wirtschaft und Politik, fordert Rumler.
Forderungen
Die Studie MenoSupport zeigt, wie geschlechterbezogene Daten- und Wissenslücken konsequent geschlossen werden können. Diesen Ansatz brauche es auch in der Forschung, fordert Vorisek. Es müsse Standard werden, diverse Datensätze zu generieren. Die würden nicht nur das Geschlecht einbeziehen, sondern auch das Alter, den sozioökonomischen Status, die Herkunft, die Bildung etc. Dadurch entstünden zwar enorm große Datenmengen, nur so könne aber die Allgemeinbevölkerung im Datensatz abgebildet werden.
Noch ist dieses Ziel allerdings in weiter Ferne. Bislang fehle es dafür an adäquaten Infrastrukturen: Gesundheitsdaten würden oft in unterschiedlichen Formaten gesammelt, seien unstrukturiert und lägen isoliert in sogenannten „Datensilos“ vor, sagt Vorisek. Abhilfe schaffen würde ein einheitlicher Standard für maschinenlesbare Gesundheitsdaten nach den FAIR-Prinzipien. „F“ steht für findable, „A“ für accessible“, „I“ für interoperable und „R“ für reusable“.
Fazit
Eine gerechte Medizin und Forschung ist möglich, erfordert aber verschiedene Maßnahmen in einem langen Prozess, fasst Mangler die Diskussion zusammen. Ziel müsse es sein, die Gesellschaft als Ganzes abzubilden. Dazu brauche es nicht nur Verständnis und Empathie füreinander, sondern auch eine gewisse Quote in impulsgebenden Positionen. „Im Prinzip muss die gesamte Gesellschaft anders werden. Jede und jeder Einzelne kann was dafür tun, jeden Tag“.
Das Gespräch führte Jessica Wiener, Wissenschaftsredakteurin beim rbb24 Inforadio.
Referentinnen:
- Prof.in Dr. Mandy Mangler
- Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Vivantes Auguste-Viktoria Klinikum und dem Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin
- Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin
- Dr. Carina Vorisek
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Gesundheitsforschung in der Charité
- Prof.in Dr. Andrea Rumler
- Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin
Das Forum Wissenswerte ist eine gemeinsame Veranstaltung der Technologiestiftung Berlin und rbb24 Inforadio. Die Sendung finden Sie zum Nachhören im rbb24 Inforadio und in der ARD Audiothek.
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